ODENWÄLDER GÄULSCHESMACHER.
Kleine Pferde — große Freude
„Manchmal wünsch ich mir mein Schaukelpferd zurück“, lautet eine Textzeile in dem Spät-Siebziger-Hit ›Über sieben Brücken musst du gehen‹. Ein Schaukelpferd brauchen sich Annette Krämer und Harald Boos aus Reichelsheim im hessischen Odenwald nicht zu wünschen, denn sie haben so viele davon, dass die beiden sie verkaufen.

Schon seit 1899 gibt es ihren kleinen, aber feinen Handwerksbetrieb, den das Paar in mittlerweile vierter Generation führt. Dabei sind die zwei richtig konkurrenzlos, weil von einst über zwanzig derartigen Betrieben im Odenwald nur mehr der ihre übrig ist.


Annette Krämer (Jahrgang 1966) und Harald Boos (Jahrgang 1959), behalten einst bei der Heirat einfach ihre jeweiligen Nachnamen. Beide sind im Odenwald aufgewachsen, und ihre berufliche Vita zeigt: Auch Umwege führen mitunter zum Ziel. Harald Boos lernt erst Maschinenschlosser und dann an der Abendschule Techniker im Bereich Informationselektrik; hernach wird er Serviceleiter für Arztcomputer bei einer Firma in Heppenheim, bei der auch Annette Krämer arbeitet. Die gelernte Einzelhandelskauffrau ist damals für die Einteilung von Servicetechnikern zuständig.




Und so fügt sich seinerzeit zusammen, was zusammenpasst. In der Folge steigt Harald Boos, nachdem er gewissermaßen »eingeheiratet« hat, wie er sagt, auf Anfrage seines Schwiegervaters 1997 auch in die Gäulschesmacherei ein. Zwar wird er mitunter in der Presse als der Kopf des Familienbetriebs verstanden und dargestellt, aber das beruht auf einem patriarchalischem Missverständnis, über das er schmunzelt.
Tatsächlich firmiert die Werkstatt unter dem Namen Holzspielzeug A. Krämer, und Harald Boos ist zwar als Inhaber verzeichnet, aber nur im Zweierpack mit seiner Gattin wird ein echtes Stück draus.


Gemeinsam werkeln, sägen, drechseln, schleifen, feilen und biegen sie das Holz zurecht und lackieren es. Alles in reiner Handarbeit, wodurch immer ein Unikat entsteht. Serienproduktion gibt’s nicht bei ihnen. Wo gehobelt wird, fallen Späne, heißt es, und die Werkstatt von Krämer und Boos ist davon gesät und die Luft von unterschiedlichen Holzaromen durchdrungen. Das Holz stammt natürlich immer aus dem Odenwald.








»Ein Anruf beim Förster genügt, und wir bekommen so viel Holz, wie wir wollen. Buche aus Fränkisch-Crumbach, zum Beispiel aus dem Wald vom Baron von Gemmingen«, sagt Boos und zählt weiter auf: »Kiefer aus Hiltersklingen. Pappel aus Bierbach, die dort an einem Bachlauf stand und wegmusste, weil sie nicht artgerecht ist.« Daraus entstehen dann in verschiedenen Größen ausschließlich Gäulchen, wie sie im Hochdeutschen heißen, oder Gäulschen, Gäulches und Schoggelgäulsche, wie sie in den verschiedenen Dialektvarianten genannt werden.

Kleine hölzerne Versionen der Pferde also, auf deren Rücken bekanntlich das Glück dieser Erde liegt oder sitzt und schaukelt — Kinder nämlich. Die sind auch heute noch angetan, wenn sie die Exponate von Krämer und Boos auf einen Spielwarenmarkt zu Gesicht bekommen, den das Ehepaar hin und wieder mit seiner Anwesenheit beehrt. Doch oft sind die Eltern ganz anderer Ansicht, so Boos, der witzigerweise als Kind nie ein Schaukelpferd hatte. »Die sagen dann: „Dafür bist du schon zu alt“, und wenn sie meinen, sie würden später noch einmal vorbeischauen, bedeutet das, die kommen nie wieder.«
Zwar ist auch für die Holzspielzeugmacher die (Vor-)Weihnachtszeit die geschäftsintensivere Jahresphase, doch auf Weihnachtsmärkte etwa gehen Annette Krämer und Harald Boos eher nicht mit ihren Handwerksprodukten: Zu kalt und ungemütlich, den ganzen Tag hinter einem Stand zu stehen, und der Ertrag steht in keinem Verhältnis zum Aufwand. In der Zeit können die beiden auch nicht produzieren, und der Laden müsste geschlossen bleiben. Die Gäulchen, ob als Schaukelpferd mit Kufen oder als Rollenpferd zum Ziehen, gibt’s im eigenen Laden zu kaufen und zu bestellen, jedoch nicht über einen Online-Shop. Dazu ist die rechtliche Seite zu stressgeladen und verdirbt die große Freude an der Kreativarbeit.



»Wir sind mit viel Spaß und Leidenschaft dabei, um diesen Berufszweig nicht aussterben zu lassen«, erzählt Harald Boos, der mit seiner Frau ganz auf diese kleine Produktpalette konzentriert ist. »Wir stellen das ganze Jahr über die „Odenwälder Gäulschen“ her.« Deren Formen entstammen alle der Musterkiste des Urgroßvaters und Firmengründers Adam Krämer. Die fertigen Arbeiten sind dann als echte Handarbeit aus dem Odenwald begehrt bei Liebhabern und bei Sammlern, die hier eine jahrhundertealte Odenwälder Tradition erhalten finden. Zudem repariert Boos als besondere Serviceleistung Gäulsche, die er nicht selber produziert hat.




Annette Krämer und Harald Boos, die auch von zwei echten Pferden umgeben sind sowie von weiteren für die ländliche Gegend typischen Tieren wie Katzen, Hund, Schafe und Hühnern, sind mit sich und ihrem Dasein im Reinen. Denn sie leben in ihrer ganz eigenen Glückswelt, wie sie andere Leute vielleicht nur in den Ferien genießen können. Wie ihre Handwerkstradition in der Zukunft weitergeführt wird, hängt ganz vom Zufall und der Hoffnung ab, dass irgendwann irgendwer sich dafür findet.
Text: Mike Seifert






Odenwälder Gäulschesmacher
Holzspielwaren A. Krämer
Inhaber Harald Boos
Siegfriedstraße 60
64385 Reichelsheim
Tel: 06164 - 1511
E-Mail: info@gaeulschesmacher.de
Website: www.gaeulschesmacher.de
Öffnungszeiten:
Montag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag 9:00 Uhr - 18:00 Uhr
Samstag 9:00 - 14:00 Uhr
Sonntag 11:00 - 14:00 Uhr
Dienstag Ruhetag